Blut, Schweiß und Reben
Mittags in Bonn-Beuel. Ein Telefon klingelt. „Hier ist Hans-Georg, dein König. Es geht in den Wingert." Der Angerufene, Werner, nickt: „Bin dabei." Tags drauf, eine Stunde nach Sonnenaufgang. Auf einem Weinbergsweg am Ahrweiler Forstberg pendelt ein roter BMW. Am Steuer: Willi. Er ist Hauptmann der Bürgerschützen und bringt nach und nach seine Lesemannschaft in den Wingert hoch über der Altstadt. Denn die Ahrweiler Schützen trinken nicht nur gerne Wein, sie bauen auch selbst die Trauben dafür an – seit 400 Jahren schon und übrigens weltweit in dieser Konstellation einzigartig.
Oben angekommen, hört keiner mehr auf Willi. Thomas hat das Kommando. Denn er ist der Chef im Wingert und hat schon Dutzende von orangenen Lesekisten verteilt. „Von hier bis zum roten Dreieck, aber nur die oberen beiden Etagen. Das wird der Blanc de Noir", weist er den 30-köpfigen Trupp ein – unter ihnen auch drei Schützen-Ehefrauen. Schere raus, und ab geht es in den Steilhang. Von unten wird gelesen. Paarweise und immer schön bergauf. Das geht zwar in die Knochen, erspart aber Ausrutscher und den Betroffenen die Höhenangst. „Autsch", Brigitte ist die erste Verletzte des Tages. Ihre Leseschere hat zugeschlagen. Eigentlich in Japan für das Beschneiden von Bonsais entwickelt, haben die rasiermesserscharfen Klingen mit den roten Griffen ihren Einzug über Frankreich in deutsche Wingerte gehalten. Brigittes rechter Zeigefinger blutet, doch sie trägt es mit Fassung: „Ein bisschen Schwund ist immer." Und bringt damit die geneigten Frotzler auf den Plan: „So kommt die Farbe in den Rotwein." Kiste für Kiste füllt sich.
Jürgen stapelt sie im Quergang auf einem Schlitten. Thomas gibt an seinem Trecker Gas, und schon ist die erste Ladung per Seilzug am Winzerweg angekommen. Gäbe es Henky nicht, müsste er erfunden werden. Denn der Fähnrich der Bürgerschützen ist mit zwei Metern Größe so etwas wie ein lebendiger Baukran. Er hievt die Kisten auf den Unimog, und schon geht die erste Fuhre ab ins Tal. Zwei Stunden und zwei weitere Verletzte später: Der Forstberg ist leer. 23 Ar sind abgelesen, 55 Zentner Trauben schon entrappt und in den Maische-Bottichen von Marc. Marc ist der Weinmacher der Schützen, führt aber eigentlich ein eigenes Premium-Weingut. Ortswechsel: Bachemer Karlskopf. Tische und Bänke laden zum Frühstück ein. Tüten mit Brötchen werden rüber gereicht, Kaffee ausgegossen. Henky und Jochen schauen sich fragend an: „Hammer schon elf Uhr?" Der Hüne nickt: „Die Ahle in Bachem han at immer um elf eine jedronke."
Den Spätburgunder vom Karlskopf aus dem Vorjahr im Glas, kommt Farbe ins Gesicht. Und Blödelei auf den Tisch. Wer sonst locht schon Brötchentüten, um sie abzuheften und im nächsten Jahr wieder einzusetzen – Reiner. Frisch gestärkt geht's in die 165 Meter langen Reihen oberhalb von Bachem. Dort, wo früher eine Versuchsanlage für Frühburgunder stand, haben die Schützen auf 28 Ar 2004 Spätburgunder angepflanzt. „Tolles Lesegut", freut sich Dieter, Vater von Thomas und selbst viele Jahre Chef in den schützeneigenen Wingerten. Wieder füllt sich Kiste für Kiste. Die Mannschaft ist eingespielt, schwitzt sich die Seele aus dem Leib. Trauben ab, der Kiste einen Stups mit dem linken Fuß gegeben und schon ist der nächste Stock dran. Deutlich einfacher als im Forstberg, denn der Karlskopf ist eher flach. „Ist das deine Fingerkuppe hier in der Bütt?" Der ganze Weinberg grinst. Diesmal hat es Arnolf erwischt. Ganz so dramatisch ist es zwar nicht, dennoch muss wieder Pflaster her. Schon steht Miele-Männchen, da hört Arnolf drauf, wieder in der Reihe, um gleich drauf wieder aufzuhören. Alle Kisten sind voll, der Wingert aber erst dreiviertel leer. Zwangspause. „Wo ist Wasser?" Eine für Jochen untypische Frage. Aber leicht zu erklären.
Die Hände aller Helfer kleben nur so vom Traubensaft, und mit an den Händen gefühlten 100 Öchslegraden liegt Willi fast richtig. 99 Öchsle hat der Spätburgunder auf dem Karlskopf, 95 waren es auf der anderen Ahrseite. Zwei Zigaretten später sind wieder Kisten da. Endspurt in den Reihen und Hunger bis unter die Arme. Hans-Georg, Werners König, steht neben selbigem: „Schneid' Du die letzte Traube ab." Gesagt, getan. Feierabend. Besser gesagt Feiernachmittag. Denn mit Gulasch und Spätzle lässt sich der Rest des Tages mit tollem Ausblick gut angehen. Auch die Blödeleien gehen weiter – bis zur Martelsjass bei Marc. Dort steht dann eher Fachsimpeln an, denn der Weinmacher entführt zur Fassprobe in seinen Keller und zieht Bilanz: „3 600 Liter habt Ihr gelesen. Das ist ein Superergebnis. Aus 3 100 machen wir Roten, der Rest wird Blanc de Noir." Probiert wird mit dem Finger aber auch die frische Maische, denn der Most vom Morgen gärt schon. Und noch einmal Finger. „Hat es Tote gegeben?" Nein, aber sechs bepflasterte Finger gehen in die Höhe. Da schmunzelt auch Peter. Er wollte eigentlich auch bei der Lese helfen, doch er musste ausgerechnet an diesem Tag auf den Verteidigungsminister aufpassen. Zur Martelsjass hat es dann aber noch geklappt. Raus aus der Uniform, rein in den Keller und einmal Brigittes Finger pusten. So ist er nun mal. Und auch Werner lacht. Er stößt mit Hans-Georg, seinem König, an. Prost.